Einleitung Storytelling im Wandel Narration und Journalismus Erzählstrukturen Das narrative Paradox Methodik Diskussion Fazit

Einleitung

Im Rahmen des DOK Neuland: Interactive Cinema 2024 der 67. Ausgabe der DOK Leipzig besuchten wir als studiengangübergreifende Exkursion unter anderem den interaktiven Dokumentarfilm „Traces of Responsibility“ von Anja Reiß und Jann Anderegg. [1] Der Film thematisiert den vor dreißig Jahren stattgefundene Genozid der Tutsi Minderheiten in Ruanda durch radikale Hutu. [2] In acht Stunden Material werden dabei Gedenkstätten besucht, Zeitzeugen interviewt oder Theaterprojekte für Kinder präsentiert. Das Wort „oder“ erhält in dieser Aufzählung eine besondere Bedeutung, denn welche Inhalte gezeigt werden, entschied das Publikum. Dafür wurden über eine eigens entwickelte App Abstimmungen abgehalten die an konkreter Stelle in den Vordergrund traten. Die Mehrheit entschied hierbei über die nächste Geschichte. Daraus folgte eine Reduktion der potenziell achtstündigen Betrachtung auf eine circa 100 Minuten lange Erzählung. Ein Konzept vergleichbar mit dem 2018 veröffentlichten Netflix-Film „Bandersnatch“, allerdings im dokumentarästhetischen Kontext. [3] Im anschließenden Interview mit den Reiß und Anderegg betonten beide die schiere Menge und Komplexität der Inhalte und den Wunsch dem Publikum die Möglichkeit zu offerieren potenziell nahezu alles zu sehen und somit weniger Inhalte raus zu kürzen. Nach Ende der Vorstellung entstanden rege Diskussionen innerhalb der Gruppe über die Geschichten, die Interaktion und besonders über die Sinnhaftigkeit solch eines Formates. Und obwohl auch andere Filme es schafften Diskurs anzuregen, schien dieser inhaltlich besonders intensiv. Eine Leitfrage, die sich abzeichnete, lautete: Wie viel Publikumsbeteiligung verträgt die Dramaturgie?

Betrachtet man fiktive Storytelling-Formate – besonders im Gaming – scheint die Präsenz von Open-World Spielen nicht mehr wegzudenken. [4] In diesen ermöglichen nicht-lineare Erzählstrukturen den Spieler:innen maximale Entscheidungsfreiheit in der Narration. Wechselt man die Perspektive in den nonfiktiven, dokumentarästhetischen Bereich, scheint der Markt, sowie die dazugehörigen Formate unverhältnismäßig gering ausgeprägt. Godulla und Wolf attestieren: „Erste Darstellungsformen dürfen bereits als etabliert angesehen werden: Scrollytelling, Webdokumentationen und selektive Multimediastorys haben bereits Konturen angenommen und werden derzeit experimentell rasch weiterentwickelt. Auf Seiten des Publikums sowie der Redaktionen muss dabei gleichermaßen festgehalten werden, dass die Rezeptions- wie Kommunikationskompetenz eher am Anfang steht. […] Erste empirische Befunde stellen jedoch langfristig gute Marktchancen für digitales Storytelling heraus – zumindest auf Seiten des Publikums. Dort stößt die Option, innerhalb eines vorgefertigten Gerüsts selbst Schwerpunkte der nicht-fiktionalen Narration bestimmen zu können, auf großes Interesse“ Und weiter: „Auf Seiten der Kommunikatoren ist jedoch festzuhalten, dass die Beurteilung der Publikumsbedürfnisse mitunter eher aus dem Bauch heraus erfolgt“. [5] Diese Feststellung stammt aus dem Jahre 2018. Betrachtet man die seit jeher fortgeschrittene Entwicklung, scheinen sich nach wie vor moderne Exemplare des digitalen Storytellings anhand des Interaktionsrahmens der 2012 veröffentlichten Geschichte „Snow Fall: The Avalanche at Tunnel Creek“ zu limitieren. [6] Auch die Recherche zeitaktueller Beiträge, die sich mit der Konzeption digitaler Storytelling Formate beschäftigen, ist tendenziell schwerfällig und nicht repräsentativ zu der von Godulla und Wolf getätigten Potenzialsdiagnose. Um diese Lücke zu schließen, widmet sich diese Masterarbeit der Forschungsfrage: Wie viel User Agency verträgt eine kohärente Dramaturgie im nonfiktionalen digitalen Storytelling? Im Rahmen dieser Forschungsfrage wird eine theoretische Grundlage erarbeitet, die digitales Storytelling als solches identifizieren und seine journalistischen Qualitäten und Herausforderungen untersuchen soll. Des Weiteren sollen narrative Strukturen erfasst werden, um das sogenannte narrative Paradox zu verorten. [7] Diese theoretische Grundlage soll als Basis für eine qualitative Expertenbefragung dienen, um eine Beantwortung der Forschungsfrage zu ermöglichen.

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[1] Vgl. DOK-Leipzig. 2024. "Traces of Responsibility" Zugriff am 4. Februar 2025. https://www.dok-leipzig.de/film/traces-responsibility/archive
[2] Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung. 2020. "Gedenken an den Völkermord in Ruanda." 2. April 2020. Zugriff am 4. Februar 2025. https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/307318/gedenken-an-den-voelkermord-in-ruanda/
[3] Vgl. Schmieder, Jürgen. "Black Mirror: Bandersnatch auf Netflix – Aus dieser Realität gibt es keinen Ausweg." Süddeutsche Zeitung, 28. Dezember 2018. https://www.sueddeutsche.de/medien/black-mirror-bandersnatch-auf-netflix-aus-dieser-realitaet-gibt-es-keinen-ausweg-1.4266830 (Zugriff am 4. Februar 2025)
[4] Vgl. Kreienbrink, Matthias. 2020. "Open-World-Spiele: Eine Welt ist nicht genug." Der Spiegel. 1. November 2020. Zugriff am 4. Februar 2025. https://www.spiegel.de/netzwelt/games/open-world-spiele-eine-welt-ist-nicht-genug-a-1f8b9c32-502b-4045-9f20-f8cc83bdec5b
[5] Godulla, Alexander und Cornelia Wolf. 2018. "Digitales Storytelling-Nutzererwartungen, Usability, Produktionsbedingungen und Präsentation." In Journalismus im Internet: Profession-Partizipation-Technisierung, herausgegeben von Christian Nuernbergk und Christoph Neuberger, 81-100. Wiesbaden: Springer VS, S.96
[6] Vgl. Branch, John. 2012. "Snowfall - The Avalanche at Tunnel Creek." 20. Dezember 2012. Zugriff am 4. Februar 2025. https://www.nytimes.com/projects/2012/snow-fall/index.html#/?part=tunnel-creek
[7] Vgl. Louchart, Sandy, und Ruth Aylett. 2005. „Solving the Narrative Paradox in VEs - Lessons from RPGs.“ Heriot Watt University. 18. August 2005. Zugriff am 26. Dezember 2024. https://www.macs.hw.ac.uk/~ruth/Papers/narrative/IVA03-Louchart-Aylett.pdf