In der qualitativen Forschung kommen verschiedene Arten von Expert:inneninterviews zum Einsatz, die jeweils unterschiedliche Zielsetzungen und methodische Ansätze verfolgen. Das explorative Expert:inneninterview dient primär der ersten Orientierung in einem neuen oder komplexen Themenfeld. Es ermöglicht die Strukturierung des Untersuchungsgebiets und die Generierung von Hypothesen. Die Expert:inenn tragen hierbei vor allem „Kontextwissen“ oder Informationen über eine Zielgruppe bei, die für die Forschung von Bedeutung sind. Die Durchführung erfolgt möglichst offen, wobei ein Leitfaden vorgegeben wird, der zentrale Gesprächsdimensionen strukturieren soll. Im Fokus steht eine thematische Sondierung ohne den Anspruch auf Vollständigkeit, Vergleichbarkeit oder Standardisierung. Dieses Interviewformat ist besonders für die Erkundung eines neuen Themas geeignet und lässt Platz für spontane Exkurse, wodurch es sich von narrativen oder episodischen Interviews unterscheidet, die weniger strukturiert sind. [1]
Das systematisierende Expert:inneninterview hingegen zielt auf die systematische und lückenlose Gewinnung von Fach- und Erfahrungswissen. Die Expert:inenn fungieren als „Ratgeber“, deren exklusives, praxisbezogenes Wissen für die Forschung von erheblichem Wert ist. Die Durchführung dieses Interviews erfolgt strukturiert, oft mit einem detaillierten Leitfaden, der auch standardisierte Ansätze wie die Delphi-Methode einbeziehen kann. Der Fokus liegt auf der Vergleichbarkeit und Standardisierung der Daten, um diese in multimethodischen Ansätzen wie der Triangulation verwenden zu können. Allerdings hat die Popularität dieses Ansatzes in der Forschung auch zu einer Einschränkung des Verständnisses des Expert:inneninterviews geführt, da es häufig nur als reine Wissensabfrage verstanden wird und dabei die Verbindung zwischen empirischer Praxis und methodischer Reflexion unterbleibt. [2]
Das theoriegenerierende Expert:inneninterview zielt darauf ab, das Wissen der Expert:innen nicht nur als Sammlung von Fakten zu erfassen, sondern vor allem ihre persönlichen Sichtweisen, Erfahrungen und Entscheidungen zu verstehen. Hier geht es darum, die oft unbewussten Handlungsweisen und Denkmuster der Expert:innen zu rekonstruieren, die für die Funktionsweise von sozialen Systemen wichtig sind. Der Fokus liegt darauf, die subjektiven, oft nicht direkt ausgesprochenen Aspekte des Expert:innenwissens zu erfassen. Dazu wird ein Leitfaden verwendet, der die Gesprächsführung lenkt, aber gleichzeitig Raum für tiefere Einblicke lässt. Anders als bei anderen Interviews geht es hier nicht nur um die Sammlung von Wissen, sondern um das Entdecken und Verstehen der zugrunde liegenden Denkmuster und Weltanschauungen der Expert:innen. Ziel dieses Interviews ist es, aus den Gesprächen eine fundierte Theorie zu entwickeln, die das untersuchte Thema auf eine tiefere, komplexere Weise erklärt. Das bedeutet, dass aus den individuellen Erfahrungen und Perspektiven der Expert:innen allgemeinere, aber gut begründete Theorien abgeleitet werden. Diese Art des Interviews geht also über eine einfache Wissensabfrage hinaus, sondern nutzt die Expertise der Gesprächspartner:innen, um neue Einsichten und Erklärungen zu entwickeln, die nicht sofort in den Daten zu finden sind. [3]Für diese Untersuchung wurde der theoriegenerierende Ansatz gewählt, weil das Ziel darin besteht, die tieferliegenden, oft unbewussten Denk- und Entscheidungsprozesse der Expert:innen zu erfassen. Es geht nicht nur darum, Fakten zu sammeln, sondern auch zu verstehen, warum und wie Expert:innen bestimmte Entscheidungen treffen oder bestimmte Handlungsweisen entwickeln. Durch diesen Ansatz können neue Perspektiven und Theorien zu einem Thema entwickelt werden, die bisher nicht in den Vordergrund gerückt sind.<
Zur Verarbeitung der durch die Expert:inneninterviews erhaltenen Informationen, wird im Folgenden die qualitative Inhaltsanalyse verwendet. Diese eignet sich besonders gut für eine Verarbeitung großer Materialmengen, während sie qualitative Interpretierbarkeit gewährleistet. [4] Für eine Analyse dieser Art ist die Kategoriengeleitetheit essenziell und stellt darüber hinaus das Unterscheidungsmerkmal zu vergleichbaren qualitativen Methoden dar. [5] Diese Kategorien(systeme) können dabei sowohl induktiv als auch deduktiv entwickelt werden. Induktive Kategorienbildung orientiert sich dabei an den zu analysierenden Inhalten. Die Kategorien werden also beim Rezeptionsprozess entwickelt und im gesamten Prozess gegengeprüft, um ein System zu entwickeln, dass schlussendlich zur tatsächlichen Analyse genutzt werden kann. Das deduktive Verfahren sieht eine vorherige theoriebasierte Erstellung der Kategorien vor, die dann als Schablone für den Inhalt benutzt werden kann. [6] In dem Fall der vorliegenden Untersuchung wurde sich für das Verfahren der induktiven Kategorienbildung anhand der Inhalte entschieden.
Die Erstellung eines Leitfadens für Experteninterviews erfordert ein sorgfältiges Abwägen zwischen Struktur und Offenheit, wobei das Prinzip „So offen wie möglich, so strukturierend wie nötig“ als Leitlinie dient. [7] Dieses Prinzip verdeutlicht, dass ein Interviewleitfaden einerseits eine gewisse Flexibilität bieten muss, damit die Experten ihre Sichtweisen und Erfahrungen frei ausdrücken können. Andererseits ist es notwendig, den Interviewprozess in einem gewissen Rahmen zu steuern, um sicherzustellen, dass die relevanten Themen und Fragestellungen in ausreichender Tiefe behandelt werden.
Die Struktur des Leitfadens beeinflusst maßgeblich die Art der Antworten, die vom Interviewer erhalten werden. Eine starke Strukturierung hat den Vorteil, dass gezielt Informationen zu spezifischen Themen eingeholt werden können, die für das Forschungsziel von Bedeutung sind. Besonders bei komplexen Themen oder unterschiedlichen Stakeholdern erleichtert dies die Vergleichbarkeit der Antworten und die spätere Analyse. [8] Einheitliche Fragen ermöglichen es, unterschiedliche Perspektiven zu einem gemeinsamen Thema zu sammeln und somit eine breitere Datenbasis für die Forschung zu schaffen. Auf der anderen Seite birgt eine zu starke Strukturierung auch Risiken. Wenn der Interviewleitfaden zu rigide ist, könnten die Antworten stark durch die Formulierung der Fragen beeinflusst werden. Das bedeutet, dass die Perspektiven der Experten möglicherweise verzerrt oder eingeengt werden, da alternative Sichtweisen nicht genügend Raum finden. Darüber hinaus können Höflichkeitsantworten oder Missverständnisse, die sich aus der starren Struktur ergeben, die tatsächliche Sichtweise der Befragten verschleiern.
Um diesen Nachteilen entgegenzuwirken, kann der Einsatz von „Stimuli“ hilfreich sein. Hierbei handelt es sich um Elemente wie Bilder, Geschichten oder Videos, die im Interviewprozess als Impulse genutzt werden, um eine tiefere Auseinandersetzung mit bestimmten Themen zu fördern. [9] Stimuli tragen dazu bei, dass der Interviewer neue Denkansätze anregt und den Experten zu einer differenzierteren Betrachtung des Themas anregt. In der vorliegenden Studie wurde beispielsweise eine Grafik eingesetzt, bei der die Experten gebeten wurden, sich grafisch auf fünf verschiedene Spektren zu verorten. Diese Methode unterstützte die Experten dabei, komplexe Themen aus einer neuen Perspektive zu betrachten und das Gespräch in eine unvoreingenommene Richtung zu lenken.
Wichtig bei der Erstellung des Leitpfades ist außerdem die möglichst offene Position der/des Forschenden. In qualitativen Interviews muss der/die Forscher:in eine Offenheit gegenüber den Ergebnissen und Perspektiven der Experten bewahren. Die Forschungsfragen und der theoretische Rahmen der Studie setzen zwar bereits eine bestimmte Richtung fest, jedoch sollte der Forscher während des Interviews unvoreingenommen bleiben, um nicht nur Bestätigungen seiner Hypothesen zu erhalten, sondern auch neue und unerforschte Perspektiven zu integrieren. [10] Diese Offenheit ist besonders wichtig, da qualitative Forschung oft unerwartete und wertvolle Einsichten zu Tage fördert, die nicht im Voraus antizipiert werden können. Während des Interviews sollte der Forscher daher sicherstellen, dass der Gesprächsverlauf nicht zu sehr von vorgefassten Annahmen geleitet wird.
Die Herausforderung bei der Erstellung des Leitfadens liegt also darin, eine Balance zwischen Struktur und Offenheit zu finden. Der Leitfaden sollte den Interviewer durch das Gespräch leiten, dabei jedoch genügend Raum für die Experten lassen, um ihre Sichtweisen und Erfahrungen frei zu äußern. Gleichzeitig müssen Stimuli und gezielte Fragen so eingesetzt werden, dass sie die Experten zu einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit dem Thema anregen, ohne die Vielfalt der Antworten einzuschränken. Ein gut strukturierter Leitfaden sorgt nicht nur für eine systematische Sammlung relevanter Informationen, sondern fördert auch die Offenheit und Flexibilität im Gespräch, was zu einer reichhaltigeren und authentischeren Datenbasis führen soll.
Die Auswahl von Expert:innen ist entscheidend für die Qualität und Aussagekraft der erhobenen Daten im qualitativen Forschungsprozess. Dabei folgt die Expert:innenauswahl dem konstruktivistischen Ansatz, der davon ausgeht, dass Expert:innen nicht aufgrund objektiver Kriterien identifiziert werden, sondern als gesellschaftlich konstruierte Rollen betrachtet werden. Die Zuschreibung der Expert:innenrolle erfolgt demnach durch den jeweiligen Forschungskontext oder durch soziale Strukturen, die bestimmte Personen als besonders wissensreich in einem spezifischen Bereich anerkennen.
Ein relevanter methodischer Zugang zur Auswahl von Expert:innen basiert auf der methodisch-relationalen Perspektive. Dabei wird der/die Expert:in als Konstrukt des Forschungsinteresses verstanden. Das bedeutet, dass nicht die formale Position oder der gesellschaftliche Status einer Person ausschlaggebend ist, sondern vielmehr die Relevanz ihres spezifischen Wissens für die jeweilige Studie. Expertentum wird somit nicht als personale Eigenschaft angesehen, sondern kann auf unterschiedlichen Hierarchieebenen zu finden sein. In der Praxis erfolgt die Auswahl häufig durch die Orientierung an Fachliteratur, einschlägigen Verbänden oder prestigeträchtigen Positionen innerhalb eines bestimmten Fachgebiets. [11] Ein weiterer Aspekt, der in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden sollte, sind die soziodemografischen Daten der Expert:innen. Zwar ist es nicht das primäre Ziel eines Experteninterviews, detaillierte Informationen über berufliche Laufbahnen oder persönliche Wertvorstellungen der befragten Personen zu erheben, doch können solche Angaben im Nachhinein wichtige Hinweise zur Einordnung der Interviewsituation liefern. Diese Informationen helfen, die Aussagen der Expert:innen besser zu kontextualisieren und mögliche Einflüsse der beruflichen Hintergründe zu erkennen. Daher ist es sinnvoll, Expert:innen im Verlauf des Interviews auch zu ihrem bisherigen Berufsweg zu befragen. [12] Des Weiteren ist die Diversität ein wichtiger Faktor in der Auswahl der Expert:innen. In gemischtgeschlechtlichen Forschungsgruppen bietet sich die Möglichkeit eines systematischen Vergleichs, da sowohl der Untersuchungsgegenstand als auch der Expertenkreis unterschiedliche Perspektiven einbringen könne. [13] In der vorliegenden Studie wurde versucht, eine möglichst ausgewogene Geschlechterverteilung unter den Interviewpartner:innen zu erzielen. Dieses Ziel konnte jedoch aufgrund eines mangelnden Rücklaufs auf die Interviewanfragen nicht vollständig umgesetzt werden.
Zusätzlich zu inhaltlichen und methodischen Aspekten beeinflussen auch Erreichbarkeit und Bereitschaft potenzieller Interviewpartner:innen die Expert:innenauswahl maßgeblich. In der Praxis sollte die Zahl der Interviewpartner:innen nicht auf das theoretisch notwendige Minimum beschränkt werden. Stattdessen wird empfohlen, die Auswahl an die forschungspraktischen Gegebenheiten anzupassen, um eine ausreichende Anzahl von Interviews sicherzustellen. Faktoren wie die Verfügbarkeit und die Bereitschaft der Expert:innen zur Teilnahme sind entscheidend für den Erfolg der Studie. [14]
In der vorliegenden Untersuchung wurden insgesamt 15 Anfragen an potenzielle Interviewpartner:innen verschickt. Von diesen wurden sieben beantwortet, und schließlich konnten fünf Interviews durchgeführt werden. Die ausgewählten Expert:innen stammen aus unterschiedlichen Bereichen des journalistischen Umfelds. Dabei wurde besonderer Wert darauf gelegt, Vertreter:innen aus verschiedenen Stakeholdergruppen zu berücksichtigen. Neben Expert:innen aus öffentlich-rechtlichen und privatwirtschaftlichen Medienunternehmen wurden auch freie Journalist:innen sowie Produzent:innen befragt. Diese Vielfalt sollte sicherstellen, dass ein breites Spektrum an Perspektiven und Erfahrungen erfasst wird. Besonders wichtig war dabei die Einbeziehung von Personen, die direkt in die Produktion journalistischer Formate eingebunden sind, sowie von medienwissenschaftlich orientierten Expert:innen. Auf diese Weise konnte eine fundierte Basis für die Analyse geschaffen werden, die sowohl praktische als auch theoretische Einsichten berücksichtigt.
Zu den Interviews ▸[1] | Vgl. Bogner, Alexander, und Beate Littig. 2002. Das Experteninterview: Theorie, Methode, Anwendung. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S.37 |
[2] | Vgl. Bogner und Littig 2002, S.37f. |
[3] | Vgl. Bogner und Littig 2002, S.38 |
[4] | Vgl. Mayring, Philipp, und Thomas Fenzl. 2019. „Qualitative Inhaltsanalyse.“ In Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, herausgegeben von Nina Baur und Jörg Blasius, 633–648. Wiesbaden: Springer. S.633 |
[5] | Vgl. Mayring und Fenzl 2019, S.635 |
[6] | Vgl. Mayring und Fenzl 2019, S.634. |
[7] | Vgl. Helfferich, Cornelia. 2022. "Leitfaden- und Experteninterviews." In Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, herausgegeben von Nina Baur und Jörg Blasius, 875-892. Wiesbaden: Springer Natur, S.876 |
[8] | Vgl. Helfferich 2022, S.882 |
[9] | Vgl. Helfferich 2022, S.881f. |
[10] | Vgl. Kaiser, Robert. 2014. Qualitative Experteninterviews: Konzeptionelle Grundlagen und praktische Durchführung. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S.7 |
[11] | Vgl. Bogner und Littig 2002, S.40f. |
[12] | Vgl. Kaiser 2014, S.8f. |
[13] | Vgl. Bogner und Littig 2002, S.187 |
[14] | Vgl. Gläser, Jochen und Grit Laudel. 2010. Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse als Instrumente rekonstruierender Untersuchungen. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S.117 |