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Das narrative Paradox

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Ordnet man die zuvor vorgestellten Erzählstrukturen exemplarisch grafisch an, fällt auf, dass sinkende Linearität unmittelbar mit einer zunehmenden Emanzipation der User Agency korreliert. Nutzer:innen erhalten in weniger linearen Erzählformaten mehr Freiheit, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und individuelle Wege durch die Geschichte zu beschreiten. Gleichzeitig ist jedoch zu beobachten, dass mit diesem Anstieg an Freiheit ein Verlust der Kontrolle durch die Autor:innen einhergeht. Je weniger stark die Erzählstruktur durch vorgegebene Handlungspfade definiert ist, desto schwieriger wird es für Autor:innen, eine kohärente Dramaturgie aufrechtzuerhalten, die den Verlauf der Geschichte lenkt und eine klare, konsistente Botschaft vermittelt. [1]

[Fig. 07]
Spektrum der Storywelt-Arten
Quelle: In Anlehnung Smed, et al. 2021, S.83

Diese Entwicklung führt unweigerlich zu einem Spannungsverhältnis, das von Louchart und Aylett als narratives Paradox beschrieben wird: Es entsteht ein Zerren zwischen der gestalterischen Kontrolle, die erforderlich ist, um eine dramaturgisch stringente Geschichte zu garantieren, und der Nutzerfreiheit, die essenziell ist, um interaktive Formate attraktiv und immersiv zu gestalten. [2] Interessanterweise wird dieses Spannungsverhältnis besonders deutlich in Bereichen, die von Nutzer:innen scheinbar selbst als wünschenswert angesehen werden.(siehe Kapitel „Ein Gegenentwurf“) Sie bevorzugen häufig Formate, die ihnen eine hohe User Agency ermöglicht und damit die Illusion vermitteln, aktiv und bedeutend zur Gestaltung der Geschichte beizutragen.

User Agency ist folglich ein zentraler Aspekt in der Konzeption interaktiver digitaler Storytelling-Formate. Die Gestaltung dieser Formate liegt in den Händen der Autor:innen und Gestalter:innen, was zu einer privilegierten Position der Produzierenden gegenüber den Konsumierenden führt. Es herrscht also eine asymmetrische Beziehung, in der die Gestaltenden entscheiden, wie viel Handlungsspielraum den Nutzer:innen eingeräumt wird. Die Frage nach der Freiheit der Nutzer:innen innerhalb eines narrativen Gefüges erscheint somit untrennbar mit der Frage verbunden, wie viel Vertrauen die Gestaltenden den Nutzer:innen entgegenbringen. [3] Auf einer grundlegenderen Ebene geht es um die Verortung der Nutzer:innen in einem Netzwerk aus Plattform, Autor:innen und Konsumierenden.

Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) nach Bruno Latour bietet eine mögliche Perspektive, um diese Hierarchien aufzubrechen. ANT versteht alle beteiligten Elemente – Nutzer:innen, Autor:innen und Plattformen – als gleichberechtigte Akteure innerhalb eines Netzwerks. Narrative Strukturen entstehen demnach nicht durch die Kontrolle einer einzelnen Instanz, sondern durch die Interaktion aller Akteure. Plattformen spielen hierbei eine zentrale Rolle als Vermittler zwischen den anderen Akteuren. Besonders auf Plattformen, die Nutzer:innen nicht nur Entscheidungsfreiheit bei der Navigation bieten, sondern ihnen auch erlauben, aktiv an der Gestaltung mitzuwirken, wird das Konzept der Gleichberechtigung greifbar. In solchen Fällen scheint eine gewisse Emanzipation der Nutzer:innen stattzufinden, die ihre Position innerhalb des Netzwerks stärkt. [4]

Eine solche User:innen-zentrierte Perspektive bringt jedoch auch Herausforderungen mit sich. Trotz der theoretischen Gleichwertigkeit aller Akteure können durch technische und soziale Dynamiken Ungleichgewichte entstehen. Algorithmen, die eine Hyperindividualisierung des Nutzererlebnisses ermöglichen sollen, sind ein prominentes Beispiel. Sie versprechen personalisierte und einzigartige Erlebnisse, führen jedoch häufig zu standardisierten und stromlinienförmigen Ergebnissen. Also weg vom Individuellen hin zum Kollektiven. Es handelt sich also um eine Reduktion von User Agency, bei der die Illusion von Entscheidungsfreiheit geschaffen wird, obwohl die Interessen der Nutzer:innen durch die Plattform und ihre Autor:innen gelenkt werden. [5] Dieses Phänomen wird von Smed et al. als „Illusion of Agency“ bezeichnet. Es beschreibt eine scheinbare Freiheit der Nutzer:innen, die in Wirklichkeit stark von den Strukturen und Zielen der Plattform beeinflusst wird. So endet man oft bei einer erneuten Zentralisierung narrativer Kontrolle, ohne eine echte Autonomie für die Konsumierenden geschaffen zu haben. [6] Darüber hinaus zeigt sich im wirtschaftlichen Kontext ein weiteres Ungleichgewicht. Nutzer:innen tragen durch ihre Aktivitäten auf Plattformen zu deren (wirtschaftlichem) Erfolg bei, ohne direkt an diesem Erfolg beteiligt zu sein. Auch dies untergräbt die Idee einer gleichberechtigten Teilhabe und stellt die Balance innerhalb des Netzwerks infrage. [7] Diese Überlegungen verdeutlichen, dass die Frage nach der Freiheit der Nutzer:innen in interaktiven digitalen Formaten nicht eindeutig beantwortet werden kann und ausschließlich durch die Produzierenden beantwortet werden kann. Letztlich hängt sie davon ab, wie Autor:innen und Produzent:innen die Nutzer:innen betrachten und wie viel Verantwortung und Kontrolle sie bereit sind, ihnen zuzugestehen. Es handelt sich hierbei um eine Abwägung, die von Format zu Format unterschiedlich ausfallen kann und stets kontextabhängig bleibt.

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[1] Vgl. Smed, et al. 2021, S.82
[2] Vgl. Louchart und Aylett 2005, S.1
[3] Vgl. Smed, et al. 2021, S.114
[4] Vgl. Harrell, D. Fox, und Jichen Zhu. 2009. "Agency Play: Dimensions of Agency for Interactive Narrative Design." ResearchGate. Januar 2009. Zugriff am 29. Dezember 2024. https://www.researchgate.net/publication/221250432_Agency_Play_Dimensions_of_Agency_for_Interactive_Narrative_Design, S.3
[5] Vgl. Van Dijck, José. 2009. „Users Like You? Theorizing Agency in User-Generated Content.“ ResearchGate, Januar 2009. Zugriff am 29. Dezember 2024. https://www.researchgate.net/publication/249723285_Users_Like_You_Theorizing_Agency_in_User-Generated_Content, S.5f.
[6] Vgl. Smed, et al. 2021, S.116f.
[7] Vgl. Van Dijck 2009, S.9