Fragen:

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Auswertung

Verstehen Sie Nutzer:innen dramaturgischer Strukturen eher als Betrachter:innen oder als Teil einer Geschichte?

Jacob Vicari

TACTILE.NEWS

Im Idealfall werden natürlich die Nutzerinnen Teil der Geschichte. (…) also das Interaktive auszuloten und es kann ja ganz einfach sein, indem man Fragen stellt, wie hätten sie entschieden? Und das wiedergibt, wie andere sich verhalten hätten. Das kann aber auch sein, dass man Abstimmungen macht, dass man Nutzer:innen Einfluss nehmen lässt auf die Geschichte das, die das sogar umschreiben können. Dass sie Spuren hinterlassen können, die andere wieder aufnehmen. Das finde ich eigentlich Spannend. Falls die Frage dahin geht, dass man genau das man. (…) Und dass man die Nutzer:innen als Rezipient:innen, als Leser:innen nimmt, dass sie Teil der Geschichte werden und es ihre zu ihrer Geschichte machen können. Und dass es nicht so eine vorgegebene (…) dass es nicht irgendwie interaktiv, aber vorgegeben ist, sondern wenn Geschichten so etwas Lebendiges bekommen ja, also wir haben zum Beispiel ein Dialog-Möbelstück entwickelt, was Menschen zu ihrer Meinung fragt und für Redaktionen nutzbar sein soll, dass sie praktisch Umfragen machen können mit der Dialogbank, das ist ein interaktives Format, also es können Gespräche geführt werden und Fragen gestellt werden die Nutzer:innen können Antworten und werden von der KI-Technologie verstanden. Und so können halt verschiedene Stimmen eingesammelt werden und der Clou ist eigentlich, dass man das schafft, das es praktisch kein Abfrageinstrument wird, sondern dass man auch eine Community oder eine imaginierte Community wenigstens schafft, in dem praktisch Nutzer:innen auch hören, was andere Nutzer:innen gesagt haben. Und das schätzen die sehr. Also jemand lässt einen Erziehungstipp da und kriegt dann einen Erziehungstipp, den jemand anders dagelassen hat. „Ein Nein muss sich lohnen oder so“. Das ist eigentlich immer sehr wertvoll. Und deswegen (…) und das funktioniert eigentlich sehr gut, dass man sich halt nicht allein fühlt, sondern wie man halt Medien konsumiert. Wenn wir Medien konsumieren, „ob wir die Netflix Serie schauen?“, oder „hast du gestern die Late Night Show gesehen?“ und dann so eine Gesprächsatmosphäre entstehen muss. Das wird nur schwierig erfüllt aber, dass man praktisch Teil der imaginierten Community um das ZDF-Magazin oder um die Tagesschau oder den Tatort ist. So funktionieren ja auch Lokalzeitungen, dass man Teil der imaginierten Community ist der Lokalzeitungs-Leser:innen und ich glaube, dass interaktive Medien das ermöglichen, das noch so ein Stück rauszuholen und ist dann einfach wirklich Teil der Geschichte wird und die anderen hört und erlebt und merkt. Und das ist ein großer, viel zu wenig genutzter Weg, weil viele Medienmacher:innen Angst haben so vor dem Kontrollverlust. Und sie sind nicht nur Sender:innen, sie sind auch die Kontrolleure und Gatekeeper noch von dem, was passieren darf und was nicht passieren darf, statt sich zu verstehen, ein Raum zu schaffen, einen Vertrauensraum zu schaffen, eine Plattform für Debatte zu schaffen und wenn Lokalmedien zum Beispiel eher Gastgeber:in von solchen Räumen sind und darum interaktive Formate schaffen, die können ja sehr analog sein. Es kann eine Radtour sein, von verschiedenen Wohnprojekten. Es kann aber auch eine digitale Karte sein, wo die verschiedenen Wohnprojekte drauf sind und von ihren Erfahrungen berichten, zusammenzuwohnen. Und dann können andere Leute das lesen und sagen, wie sie das wahrnehmen. Und dann entsteht so eine Debatte, dann ist das, glaube ich, ein sehr, sehr guter moderner Journalismus ohne, dass die Geschichte dramaturgisch schon festgelegt ist.

Matthias Leitner

BR audience:first Lab

Also bei genau, bei „Eisner“, bei „München 72“ und auch bei „Die Rettung“ haben wir unseren Nutzerinnen jeweils eine Rolle gegeben. Das heißt, die waren jetzt nicht zwingend, die waren jetzt nicht zwingend so, dass sie die Struktur verändern konnten, aber sie hatten immer so, das glaube ich, das kam auch rüber in unseren qualitativen Interviews, dann auch bei den Testings oder noch im Nachhinein, die hatten eine Rolle. Also bei Eisner war es so, dass wir gesagt haben, der Kurt Eisner kommuniziert mit unseren Teilnehmerinnen so, als wären sie nahe Bekannte oder Verwandte. Und das Gefühl wollten wir auch immer haben, in jedem Text, den er schreibt, in der Art und Weise, wie er antwortet. Wir hatten dann natürlich auch entsprechende Regeln: Was ist, wenn Leute zu sehr drauf einsteigen oder zu viel nachfragen? Oder ob wann brechen wir quasi diese Illusion? Denn wir sind ja auch in der Doku-Fiktion, aber das war die Haltung. Bei München 72 war die Haltung diejenige, die Leute gehen ja da rein und sind erst mal unbegleitet. Das ist wie ein Ausstellungsraum in sechs Etappen, der hier eine Welt suggeriert, die von uns gestaltet ist und quasi so eine Vergangenheit wieder auferstehen lässt. Allerdings nicht fotorealistisch, sondern in einem ganz eigenen Look and Feel und auch keine Behauptung aufzustellen, quasi als wüssten wir alles. Und da war auch wiederum die subkutane Rolle, die wir den Leuten mitgeben, das sagen wir denen nicht eins zu eins, aber die müssen sich ein Ticket ziehen, und sie können dann durch diese Ausstellungsflächen gehen, als wären sie quasi Besucher:innen der Olympischen Spiele von 72 als wäre ich eben im Metaversum. So haben wir den Raum designt, so haben wir die Leute quasi behandelt als Rolle. Und bei „Die Rettung“ war es relativ klar. Da bin ich jemand, der sich in den Rettungssack reinlegt in der Installation und eine Bergrettung erlebt. Das heißt, die sind immer dramaturgisch so eingebunden, dass sie eigentlich im Kern des Erlebens oder sehr nahe Bystanders sind die etwas miterleben.

A: Also und dann ganz plakativ sozusagen gefragt. Den Vorteil sehen Sie da worin?

Ich versuche bei Projekten am Anfang die Reduktion von Komplexität auf so drei Ebenen zu denken: Ich habe den Inhalt und ein Thema, mit dem ich mich beschäftigen will. Ich habe eine Plattform und eine Technik, auf der ich das tu. Und ich habe eine Zielgruppe und eine Nutzerschaft, für die ich das mache. Und alle drei Sachen müssen zusammenpassen. Das heißt, wie vermittele ich einen Inhalt an eine Nutzergruppe? Was macht die Technik quasi, auf der ich das tut mit dem Inhalt? Und wie nutzt die Zielgruppe die Technik? Und dieses Dreieck versuche ich so oft durchzugehen, dass ich einen Mehrwert hab und eine WhatsApp Kommunikation oder eine Messenger Kommunikation auf einem Smartphone hat bestimmte Regeln. Leute wollen sich persönlich angesprochen fühlen, die wollen sie nicht so das Gefühl haben, dass in den massenhaften E-Mail-Versand irgendwie mitverfolgen. Die wollen gern korrespondieren, weil es unnatürlich wäre, wenn ich jemanden nicht schreiben kann und der dann auch nicht darauf antwortet. Also es war dann relativ klar, dass wir bei „Ich Eisner“ ein bisschen so arbeiten müssen, dass der volle Umfang quasi wie Funktionen von WhatsApp sich auch in unserem Narrativ wiederfindet. Ähnliches mit dem Metaversum und VR-Brillen in Räumen, in denen ich mich frei bewegen kann. Wir waren da auch auf einer Plattform wie VR-Chat. Die ist dafür bekannt, Zusammenarbeit in der Ästhetik sehr, ja sehr bunt und sehr, sehr vielgestaltig irgendwie zu agieren. Zweitens sind es immer interaktive Erlebnisräume mit anderen, das heißt, da halte ich mich selten allein auf. Idealerweise treffe ich andere Leute an der Begegnungsorte. Was wiederum korrespondiert mit dem Thema, weil die Sportstätten der Olympischen Spiele 72 genau zu diesem Anlass gebaut wurden. Also da ging es um internationale Begehung im olympischen Raum. Und dann haben die gesagt: Da matcht das Metaversum mit diesem Thema wie, kriegen wir das jetzt hin, dass in dieser Technik auf der Plattform der Begegnung stattfindet und die Leute vielleicht auch so, so ein bisschen eine Haltung dazu mitkriegen und sagen, und zwar, was wir in den Interviews rausgefunden hatten, war, dass viele Leute sich an die Olympischen Spiele immer noch erinnern. Vor allem Leute, die damals so 12,13,14 waren, weil es für München so ein komplett außerirdisches Areal war. Einer hat gesagt, es ist so, als wäre ich zum Disneyland gekommen. Zu der Zeit gab es Disney in Europa noch nicht. Das war ein Gefühl, das wir reproduzieren wollten. Und gleichzeitig wollten wir den Leuten auch diesen Schock mit zumuten: Wir sind dabei, wir erleben, wie hier etwas kippt, aber wir wissen noch nicht, was das ist. Quasi das hatte immer eine Begründung aus dem Thema heraus und aus der Technik.

Kay Meseberg

ARTE

Also es gibt natürlich die Geschichte selber und es gibt ja quasi die Metageschichte. Ja, also Beispiel YouTube, der größte Fernsehsender der Welt, das kann man sagen. Und da läuft halt ein Film oder eine Doku oder was auch immer. Und dann wird die natürlich betrachtet. Aber mit dem Ansehen und mit dem Ansehen und mit dem Betrachten und Kommentieren und mit dem Interagieren entwickelt sich natürlich eine Metageschichte zu dem Inhalt. Ja, also in der Anzahl der Viewzahlen, der Daumen hoch, Daumen runter und der Kommentare und der Debatten und des Viralgehens oder nicht, deuten die meistens gemessenen Kriterien drumherum halt darauf hin, dass es dazu eine Metageschichte gibt. Also ist es viral gegangen? Ist es nicht viral gegangen? Wer hat dazu kommentiert? Wer hat dazu nicht kommentiert? Also und damit treten aber sehr oft sozusagen künstlerische oder qualitative Aspekte auch in den Hintergrund und (…) also die Nutzenden werden sozusagen Teil einer dramaturgischen Struktur, die letztendlich dann aber nicht der Geschichte selber dient, sondern in dem Bereich des Storytellings selber dann vielleicht für Anschlussprojekte, aber in dem Sinne, dass sozusagen wie bei einer (…) es kommt so eine weitere Zwiebelhaut sozusagen dazu, also die der Datenwolke um den Inhalt drumherum, die aber essenziell ist für die Verbreitung der Programme und damit wird sie natürlich auch zum Teil der Geschichte, also weil wir ja gerade da auch bei den Plattformen sehen können, ob wir da jetzt Spotify nehmen oder andere, dass es halt immer eine stärkere Konzentration zu ganz wenigen gibt. Und die große Masse sozusagen mit sehr wenig abgefrühstückt wird so und plötzlich gucken halt alle Taylor Swift und gehen alle zu deren Konzerten usw. aber für den Mittelbau und über die kleineren Künstler bleibt halt dann auch weniger übrig, weil natürlich die ganz Großen auch immer teure Angebote machen bzw. immer mehr auch dann sozusagen bei Spotify zum Beispiel gehört werden oder bei einigen YouTube Accounts kann man das halt auch beobachten, so und Mr.Beast und ähnliches, dass die halt auch immer mehr Sehzeit sozusagen auf sich vereinen und damit alle Nutzenden auch zum Teil ihrer Geschichte irgendwo machen.

Lars Grabbe

Münster School of Design

Ja, das ist eine gute Frage. Eine sehr gute Frage. Also in den narratologischen Theorien von Lottmann usw. aus den Sechzigern und Siebzigern, die ja aus der Semiotik kommen, ist die Geschichte ja immer separiert nach Discours und Histoire. Um das mal kurz ein bisschen klug zu scheißen hier. Discours ist das Wie des Erzählens, also wie werden Perspektiven von Figuren oder von realweltlichen Personen erzeugt? Wie werden sie einem User vermittelt? Und die Geschichte, also die Histoire, das ist etwas Kognitives, also den Spannungsverlauf, auf eine Biografie einer Person erlebbar zu machen, das selbst zu memorieren. Ich muss das erinnern können: Wer war nochmal die kleine Person und das war ein Kind, das da auf der Bank saß. Jetzt haben wir eine Weiterentwicklung. Das Kind ist erwachsen und blickt traurig zurück. Da müssen wir Zeitsprünge hinmachen und das ist etwas, dass man durch Discours zeigt, also sozusagen das Storytelling als visuelle oder audiovisuelle oder audiovisuell interaktive Formation der Medienkommunikation und die Histoire ist kognitiv. Und deswegen sind natürlich Nutzer:innen oder Betrachter:innen eben immer ein Teil der Geschichte, weil sie sie memorieren. Also das ist kognitionslogisch, einfach die Grundbedingung der Histoire und die Gestalterinnen und Gestalter oder die Medientechnolog:innen, die das Bauen oder die die Artefakte dazu bereithalten, also Displays usw., Steuerungspotenziale usw. oder Keyboards, Tastaturen und so, die bauen eigentlich eher diese Ebene des Discours. Und deswegen glaube ich, ist gerade bei interaktiver Kommunikation die Reiz-Wechselwirkungen größer als wenn man einfach nur einen Roman liest. Weil Tolkien kann man nichts mehr fragen, wenn man Herr der Ringe gelesen hat und man kann mit ihm auch nicht direkt interagieren, während man mit den Steuerungsintentionen in einem Computergame sehr wohl interagiert und damit auch die Geschichte ja nicht nur mental memoriert, sondern auch performativ durch Handlungen hervorbringt. Und das ist, glaube ich, noch mal so eine zweite Nuance des digitalen Storytellings als Potenzial des Erzählens, der Erzählweisen, als Potenzial der User-Involvierung. Und dann eben noch mal sozusagen diese andere Perspektive, dass wir dadurch, durch diese, durch diese Reize, Interaktionen, das Performative nochmal adressieren. Also die Person, die integriert ist, bringt das Narrativ selbst hervor. Die Fragen sind einfach, aber die Beantwortung ist sehr komplex.

Jens Radü

Der Spiegel

Ja, es ist eine gewisse Evolution. Ich habe ja schon diese Studie der New York Times angedeutet, bei der herauskam, dass interaktive Anwendungen nicht in der Form genutzt werden von der Mehrheit der Nutzerinnen und Nutzer, wie man sich das vorstellen würde. Und das können wir mit unserer Nutzungserhebung auch bestätigen. Immer dann, wenn man sehr viele Wahlmöglichkeiten an eine Geschichte einbaut im Sinne von A oder B bezüglich: willst du hier klicken oder nicht? Oder auch nur: ich wechsle die Navigationslogik, dann gehen ein signifikanter Teil der Nutzerinnen und Nutzer diesen Wechsel, diesen Bruch nicht mit. Man verliert also. Nun kann man denken: Okay, die will man auch gar nicht, man möchte nur die, die sich wirklich interessieren. Aber so funktioniert ein Massenmedium natürlich nicht. Man will viele Leute erreichen und natürlich will man auch, dass viele Leute eine Geschichte, die man anfängt zu erzählen, eben auch zu Ende lesen. Sonst gibt man sich keine Gedanken um die Dramaturgie machen. Und deswegen ist unsere Philosophie inzwischen die Dramaturgie so einfach wie möglich zu gestalten. Also erst mal fängt die Dramaturgie ja schon technisch an. Wie ist die Dramaturgie hinterlegt? Da ist schon angedeutet: Scrollt man oder muss man irgendwo wischen, soll man es miteinander kombinieren? Unsere Philosophie ist das so einfach wie möglichst zwar technisch und in der erzählerischen Dramaturgie auch nicht viel vorauszusetzen. Also man muss im Grunde eine Geschichte so erzählen, als wüsste man wenig bis gar nichts vorher. Wenig voraussetzen, viel erklären und auch die Spannung immer wieder neu setzen. Wir nutzen Cliffhanger, Rampen, Übergänge extrem. Was wichtig ist, denn natürlich ist gerade beim digitalen Storytelling die Ablenkung immer nur ein Mausklick oder ein Wisch entfernt. Und wir sehen auch, dass gerade bei solchen Übergängen und Hürden wir eben Leute verlieren. Deswegen muss man diese Brücken bauen, von einem Teil zum nächsten, von einer Medienform zum nächsten, von einem Abschnitt der Geschichte zum nächsten. Und tatsächlich sieht man auch in unserer Completion-Rate, das bedeutet also, wie viel Prozent der Nutzer haben die Geschichte bis zum Schluss gelesen, dass Geschichten, die mit dramaturgischen Mitteln arbeiten und eben solche Brücken bauen, dass diese Completion-Rate da signifikant höher ist als bei Geschichten, die sich da dramaturgisch keine Mühe geben. Und das vielleicht nur als Zusatz: wenn man eben versucht, diese Completion-Rate mitzuanalysieren, stellt man natürlich fest, dass klar bei kürzeren Geschichten eine höhere Completion-Rate ist als bei längeren Geschichten. Aber wenn man längere Geschichten nebeneineinander legt und schon einfache dramaturgische Kniffe benutzt, das sich dann tatsächlich sehr stark was verändern kann. Ein Beispiel: Man kann eine durchgeschriebene Geschichte als Textwurst anbieten, man kann sie aber auch unterteilen, mit Zwischenüberschriften versehen, Wissen strukturieren. Die einzelnen Abschnitte im besten Fall durchnummerieren und sagen: Fünf Punkte, die gegen Merz als Kanzlerkandidat sprechen oder gegen Scholz oder gegen Habeck und schon erhöht sich die Durchleserate, weil die Dramaturgie, was ja nichts anderes bedeutet, als dass dem Text ein gewisser roter Faden innewohnt und der Spannungsaufbau da ist und das Gefühl hat, da wird auf den Höhepunkt hingeschrieben, also dass sich jemand Gedanken gemacht hat. Das sich die Dramaturgie dadurch verbessert. Und es muss noch nicht mal die Titelgeschichte sein oder die 20 Seiten Reportage, sondern es geht auch bei alltäglichen Formen, wenn man sich ein bisschen Mühe gibt.

Hinsichtlich dramaturgischer Formate scheint es eine grundsätzlich förderliche Betrachtung von Nutzer:inneninvolvierung zu geben. Diese Betrachtung bezieht sich dabei besonders auf die Korrespondenz durch User:innen, sowie deren Interaktionen mit Autor:innen.

„Weil Tolkien kann man nichts mehr fragen, wenn man Herr der Ringe gelesen hat und man kann mit ihm auch nicht direkt interagieren, …“ (Prof. Dr. Lars C. Grabbe, persönliche Kommunikation, 17.12.2024)

„Leute wollen sich persönlich angesprochen fühlen, die wollen nicht so das Gefühl haben, dass sie den massenhaften E-Mail-Versand irgendwie mitverfolgen. Die wollen gern korrespondieren“ (Matthias Leitner, persönliche Kommunikation, 11.12.2024)

Geht es um eine konkrete Involvierung in der Geschichte, variiert die Meinung der Experten. Dies scheint darauf zurückzuführen, dass die Involvierung scheinbar stark mit dem Grad von Interaktivität und Navigierbarkeit einer Geschichte verknüpft wird. Dabei kommt der in Kapitel „Das narrative Paradox“ angesprochene Verlust von Kontrolle aber auch über einen Verlust des Publikums zu tragen.

„Wir hatten dann natürlich auch entsprechende Regeln“ (Matthias Leitner, persönliche Kommunikation, 11.12.2024)

„Wenn man sehr viele Wahlmöglichkeiten in eine Geschichte einbaut im Sinne von A oder B bezüglich: willst du hier klicken oder nicht? Oder auch nur: ich wechsle die Navigationslogik, dann gehen ein signifikanter Teil der Nutzerinnen und Nutzer diesen Wechsel, diesen Bruch nicht mit.“ (Dr. Jens Radü, persönliche Kommunikation, 17.12.2024)

„Nun kann man denken: Okay, die will man auch gar nicht, man möchte nur die, die sich wirklich interessieren. Aber so funktioniert ein Massenmedium natürlich nicht“ (Dr. Jens Radü, persönliche Kommunikation, 17.12.2024)

Angesichts des Nutzer:innen-Verlustes spricht RADÜ vor allem von nötigen Übergängen innerhalb eines Formates welche die Linearität wahren sollen und hebt deren Effektivität auf Basis marktanalytischer Werte hervor.

„Tatsächlich sieht man auch in unserer Completion-Rate, das bedeutet also, wie viel Prozent der Nutzer haben die Geschichte bis zum Schluss gelesen, dass Geschichten, die mit dramaturgischen Mitteln arbeiten und eben solche Brücken bauen, dass diese Completion-Rate da signifikant höher ist“ (Dr. Jens Radü, persönliche Kommunikation, 17.12.2024)

GRABBE erweitert diesen Gedanken und spricht von dem Potenzial Nutzer:innen durch die interaktive/performative Ebene eine Memorierung durch mehrere Reize zu ermöglichen, während sie somit selber die Geschichte voranbringen.

„…als Potenzial des Erzählens, der Erzählweisen, als Potenzial der User Involvierung und dann eben noch mal sozusagen diese andere Perspektive, dass wir dadurch, durch dieser, durch diese Reiz Interaktion das Performative nochmal adressieren, also die Person, die integriert ist, bringt das Narrativ selbst hervor.“ (Prof. Dr. Lars C. Grabbe, persönliche Kommunikation, 17.12.2024)

VICARI erweitert diesen Gedanken und spricht einerseits von der Möglichkeit die Geschichte aktiv zu beeinflussen und andererseits auch somit eine Kommunikation unter den Rezipierenden zu ermöglichen., um der Geschichte einen organischen Charakter zu verleihen. Auch LEITNER spricht hier von einem möglichen Potenzial.

„Das kann aber auch sein, dass man Abstimmungen macht, dass man Nutzerinnen Einfluss nehmen lässt auf die Geschichte das die das sogar umschreiben können. Das sie Spuren hinterlassen können die andere wieder aufnehmen“ (Dr. Jacob Vicari, persönliche Kommunikation, 16.12.2024)

„Zweitens sind es immer interaktive Erlebnisräume mit anderen, das heißt, da halte ich mich selten allein auf. Idealerweise treffe ich andere Leute an den Begegnungsorten.“ (Matthias Leitner, persönliche Kommunikation, 11.12.2024)

Durch diese Verknüpfung der Nutzer:innen spricht VICARI von der Möglichkeit, diese als Teil von (imaginierten) Communitys zu etablieren, in denen sie selber Kontrolle übernehmen und diese verwalten. Somit wird eine Identifikation durch fortschreitenden Austausch ermöglicht, ähnlich wie wir es von Storyworlds kennen.

„Der Clou ist eigentlich, dass man das schafft, das es praktisch kein Abfrage Instrument wird, sondern dass man auch eine Community oder eine imaginierte Community wenigstens schafft, in dem praktisch Nutzer:innen auch hören, was andere Nutzer:innen gesagt haben“ (Dr. Jacob Vicari, persönliche Kommunikation, 16.12.2024)

Durch diese Gradwanderung der Nutzer:innen-Involvierung scheint sich ein Spektrum mit Spannungsfeldern aufzutun. Dabei scheinen ansteigend große Nutzer:innen-Freiheiten mögliche Vorzüge mit sich zu bringen, die sich scheinbar nicht mit den Vorstellungen eines Massenpublikums decken. Daher scheint es eine Abhängigkeit in Bezug zu der Zielgruppe zu geben und wie dieses auf die geplante Involvierung reagiert. LEITNER beschreibt dies wie folgt:

Ich habe den Inhalt und ein Thema, mit dem ich mich beschäftigen will. Ich habe eine Plattform und eine Technik, auf der ich das tu. Und ich habe eine Zielgruppe und eine Nutzerschaft, für die ich das mache. Und alle drei Sachen müssen zusammenpassen. Das heißt, wie vermittele ich einen Inhalt an eine Nutzergruppe? Was macht die Technik quasi, auf der ich das tut mit dem Inhalt? Und wie nutzt die Zielgruppe die Technik. (Matthias Leitner, persönliche Kommunikation, 11.12.2024)

Besonders im Rahmen von massenmedialen Social Media Inhalten spricht MESEBERG von der Nutzer:innen-Involvierung durch die um die produzierte Erzählung entstehende Meta-Geschichten. Nutzer:innen interagieren mit den Geschichten zum Beispiel in Form von Kommentaren oder Likes und treiben die Dramaturgie des Produkts und dessen Produzent:in voran. Damit folgt er der Betrachtung von GRABBE der aus Basis des discours/histoire Konzeptes eine/n Nutzer:in voraussetzt für das Erzählen von Geschichten.

„Aber mit dem Ansehen und mit dem Ansehen und mit dem Betrachten und Kommentieren und mit dem Interagieren entwickelt sich natürlich eine Metageschichte zu dem Inhalt, also in der Anzahl der Viewzahlen, der Daumen hoch, Daumen runter und der Kommentare und der Debatten und des Viralgehens oder nicht.“ (Kay Meseberg, persönliche Kommunikation, 06.12.2024)

„Discours ist das Wie des Erzählens. Also wie werden Perspektiven von Figuren oder von realweltlichen Personen erzeugt? Wie werden sie einem User vermittelt und die Geschichte, also die histoire, das ist etwas Kognitives, also den Spannungsverlauf, auf eine Biografie einer Person erlebbar zu machen, das selbst zu memorieren.“ (Prof. Dr. Lars C. Grabbe, persönliche Kommunikation, 17.12.2024)

„…Nutzer:innen oder Betrachter:innen eben immer ein Teil der Geschichte, weil sie sie memorieren“ (Prof. Dr. Lars C. Grabbe, persönliche Kommunikation, 17.12.2024)

„…also die Nutzenden werden sozusagen Teil einer dramaturgischen Struktur.“ (Kay Meseberg, persönliche Kommunikation, 06.12.2024)

In dieser Metageschichte besteht einerseits die Möglichkeit für Anschlussprojekte und andererseits verinnerlicht sie auch Themen wie Reichweitenkonzentration, die je nach Umfang positiv und negativ betrachtet werden kann.

„…die letztendlich dann aber nicht der Geschichte selber dient, sondern in dem Bereich des Storytellings selber dann vielleicht für Anschlussprojekte“ (Kay Meseberg, persönliche Kommunikation, 06.12.2024)

„…dass die halt auch immer mehr Sehzeit sozusagen auf sich vereinen und damit alle Nutzenden auch zum Teil ihrer Geschichte irgendwo machen“ (Kay Meseberg, persönliche Kommunikation, 06.12.2024)

„…dass es halt immer eine stärkere Konzentration zu ganz wenigen gibt. Und die große Masse sozusagen mit sehr wenig abgefrühstückt wird“ (Kay Meseberg, persönliche Kommunikation, 06.12.2024)